Frei und radikal – so könnte man die Musik des Saxofonisten Stefan Keune kurz und prägnant beschreiben. Der gebürtige Oberhausener setzt seinem Spiel keine Grenzen und Einschrän­kungen. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist der 53-Jährige vor allem ini Ruhrgebiet unterwegs und setzt dabei auf eingespielte Formationen und feste Partner. Mittlerweile merkt auch Keune, dass den Organisatoren und Machern von Clubs und Festivals langsam Kraft und Kohle ausgehen: Die Aufträge gehen spürbar zurück. Ein Grund, das Saxofon in die Ecke zu stellen, ist dies aber noch lange nicht.

.,Ich liebe das Spontane, Unvorherseh­bare und brauche keine Partitur“, sagt Ste­fan Keune im Gespräch am Rande des dies­jährigen Moers-Festivals. Hier war er schon vor mehr als drei Jahrzehnten als Zuhörer zu Gast, und hier hat er vor gut einem Jahr ein vielumjubeltes Konzert im Trio mit dem Bas­sisten Dominic Lash und dem Schlagzeuger Steve Noble gespielt. Der Auftritt gehörte zu den Höhepunkten des Festivals und stand für all das, was Keunes Musik ausmacht: Dynamik, Freiheit und Kommunikation. Von Oberhausen nach Moers sind es rund 20 Kilometer, und wer die Szene im Ruhrgebiet kennt, weiß, dass man jede Gelegenheit nutzen muss. Der Auftritt auf der großen Bühne war für ihn dennoch eine Premiere, die aber vor allem damit zu tun hatte, dass der neue Festivalleiter Tim lsfort das Trio Keune/Lash/Noble unbedingt haben wollte. „Die Gelegenheit konnten wir uns natürlich nicht entgehen lassen“, sagt Keune.

Gleichzeitig war das Konzert eine Premi­ere für das Festival – zumindest aus archi­tektonischer Sicht. Erstmals spielte eine Band auf einer Bühne, die in die Zuschauer­tribüne hineingebaut wurde. Die Musiker waren umzingelt von mehr als tausend Schau- und Hörlustigen. Die Energie war spürbar, bahnte sich ihren Weg direkt über Ohren und Augen in den Körper. Meist im Uptempo, mit nach vorne treibenden Beats, überblasenem Saxofon und pulsierendem Bass, unterbrochen nur von wenigen ruhige­ren Momenten, in denen alle durchschnau­fen. Ein fulminantes Set. .. Es war eine sehr intensive Erfahrung, die ich so noch nicht gemacht hatte“, so Keune rückblickend. Vor allem hatte er vorher noch nie vor so vielen Leuten gespielt. Oft sind es mehrere Dut­zend, auf Festivals mal ein paar hundert, aber mehr als tausend?!

Es zeigt jedenfalls, dass es immer noch funktioniert, keine Kompromisse einzuge­hen. Auch in Moers, einem Festival, das die freien, radikalen Jahre hinter sich gelassen hat, aber immer noch weit weg davon ist, sich dem (musikalischen) Mainstream – wenn man das von rechts gekaperte Wort überhaupt noch benutzen darf – anzupassen. Am nächsten Morgen durfte Keune dann noch einmal bei den Morning Sessions ran, dem Ort, wo die freie Improvisation in Moers mittlerweile eigentlich zu Hause ist. Diesmal war es ein Spiel mit mehreren Unbekannten: Neben Lash waren der Schlagzeuger Simon Camatta und Thorsten Töpp an der Gitarre dabei.

Und auch hier: Das Interesse ist riesig, viele müssen draußen bleiben, ,. an Land“ sozusagen – aus Sicherheitsgründen wurde die Zuhörerzahl auf 199 begrenzt. Das Ganze fand auf einer künstlichen Insel im Schloss­park statt, umrandet vom alten Stadtgraben. Im Hintergrund läuteten die Kirchenglocken, Vögel zwitscherten, und Fahrradfahrer bahn­ten sich mit lautem Geklingel ihren Weg durch die übernächtigten Besucher. Eine Atmosphäre, von der man auch als Musiker nicht immer alles mitbekommt. .,Eigentlich merkt man es nur dann, wenn es mal nicht läuft“, sagt Keune, .. und dann stört es schon.“

Wenn sich die Umwelt nicht gerade ein­mischt, verzichtet er auf jegliche externe Klangerweiterungen: Keine Elektronik, keine Präparation, alles läuft ohne Netz und doppelten Boden. Der unverfälschte Klang ge­nügt ihm, um sich künstlerisch auszudrü­cken. Die reine Lehre also.

Vom Fan zum Musiker

Gehen wir noch einmal 30 Jahre zurück. Gleiche Stadt, anderer Ort. Damals fand das Festival noch im auch optisch kühlen Am­biente der alten Eissporthalle statt. John Zorn, David Moss, Fred Frith & Co verkör­perten die Anarchie und die Coolness der New Yorker Downtown-Szene, während Roscoe Mitchell, das Rova Saxophone Ouar­tet, Peter Brötzmann für den klassischen Free Jazz standen … Das hat mich wirklich interessiert, und ich wollte das auch ma­chen“, sagt Keune.

Letztlich war es ein Club-Konzert von Brötzmann im Jahr 1982, das ihn dazu ani­mierte, ein Saxofon zu kaufen. ,.Ich hatte anfangs klassischen Unterricht und habe gerade in der ersten Zeit viel gelernt, aber später dann meine eigenen Techniken ent­wickelt. Das Akademische ist in der freien Musik hinderlich“, sagt Keune und befindet sich damit in guter Gesellschaft. Brötzmann oder Paul Lovens, mit dem er mehrfach im Duo aufgetreten ist, sehen es ähnlich. Shouts, Sounds und Spaltklänge gehören zu den wichtigsten Elementen in Keunes Spiel, das er über die Jahrzehnte verdichtet hat.

Es dauerte nicht lange, ehe die ersten Auftritte und Aufnahmen folgten: im Quar­tett it Dietmar Diesner (sax). Matthias Bauer (b) und Paul Lytton (dr), im Duo mit dem Gitarristen John Russell oder im eige­nen Trio mit Lytton und dem Bassisten Hans Schneider. Beim Ruhrjazzfestival in Bochum war er in 1980er und 90er Jahren mit ver­schiedenen Formationen Dauergast – darun­ter im Trio mit Martin Blume (dr) und dem inzwischen verstorbenen Heinz Linfert (p), erweitert um Luc Houtkamp (sax) und dem ebenfalls verstorbenen Jay Oliver (b). ,.Es war eine sehr intensive Zeit mit vielen Enga­gements“, sagt Keune. Vor allem sei wichtig gewesen, den Kontakt untereinander zu hal­ten, eine Sache, die heutzutage nicht mehr selbstverständlich ist.

.,Ich finde es wichtig, in festen Besetzun­gen zu spielen, im direkten Austausch mit den Leuten. Ad hoc-Besetzungen sind auch ab und zu gut, mein Interesse gilt aber eher den Gruppen, die über viele Jahre zusam­menarbeiten und so eine gewisse Basis schaffen, auf der man bei jedem Treffen aufbauen kann“, sagt Keune. Damit meine er allerdings nicht, dass bestimmte Pattern immer wieder gespielt werden, sondern ,,dass das Zusammenspiel wächst“. Stilis­tische Weiterentwicklungen sind dabei nicht immer sofort sieht- und hörbar – am ehesten noch an Aufnahmen, die im laufe der Jahre erscheinen .• Dennoch sorgt das kollektive Gedächtnis der Musiker und im Idealfall auch der Zuhörer dafür, dass die gemeinsa­me musikalische Sprache verfeinert wird.

Und obwohl Keune das Thema Komposi­tion an sich nie wirklich interessiert hat, gab es auch Ansätze, bei denen die Absprachen zwischen den Musikern eine gewisse Rolle gespielt haben. Etwa beim siebenköpfigen Echtzeit-Ensemble Mitte der 1990er Jahre, an dem unter anderem Gunda Gottschalk und Thomas Lehn beteiligt waren. ,,Da ha­ben wir mit Strukturen gearbeitet, aber nicht mit Partituren. Es war musikalisch interes­sant, aber auf Dauer leider nicht finanzier­bar.“ Das alte Problem.

Mit der Musik leben

Leider werden auch deshalb die Abstände, in denen sich die Musiker treffen, egal ob zum Konzert oder, wesentlich selte­ner, im Studio, immer größer. Clubs ver­schwinden oder modifizieren ihr Programm in Richtung „radiotaugliche Musik“, eine Be­gründung, mit der der WDR übrigens vor Jahren seinen Ausstieg beim Moers-Festival zu rechtfertigen versuchte. Und auch die einschlägig bekannten Festivals können nur noch unter größten Anstrengungen Jahr für Jahr ihre Existenz sichern. ,,Die ökonomi­sche Situation ist ziemlich katastrophal und wird immer schlechter“, zieht Keune eine ernüchternde Zwischenbilanz. 1 n den 1980er und 90er Jahren habe er noch sehr viel spie­len können, wurde regelmäßig eingeladen, doch zuletzt wurden die Anfragen weniger. Engagements wie in Moers oder im kom­menden Jahr beim Ruhrjazz-Festival in Bo­chum sind da schon die Ausnahme. Letztlich sind es die „Stars“ der Szene, wie Brötz­mann, Alexander Sehlippenbach oder Evan Parker, die am ehesten von ihrer Musik le­ben können. Keune hat immerhin noch ein zweites Standbein bzw. einen Job als Biblio­thekar, der ihm, seiner Frau und den zwei Töchtern die Existenz sichert. Unterrichten, wie es viele seiner Kollegen machen, kommt für ihn nicht in Frage. ,, Ich habe es anfangs gemacht und fand es schlimm. Es passt auch nicht zu meiner Philosophie des freien Spiels“, sagt er.

Die nächsten Projekte warten jedenfalls. Im kommenden Jahr soll es eine Aufnahme mit anschließender Tournee mit dem wie­derbelebten Ensemble XPACT geben. Ne­ben Keune, Schneider und Lytton ist der Gitarrist Erhard Hirt dabei. Die Gruppe galt als Keimzelle des 1983 gegründeten euro­päischen King Übü Örchestrü, einem kam­mermusikalischen Gegenentwurf zu den da­maligen lautstarken Free-Jazz-Orchestern, welche die „ Kaputtspielphase“ repräsentier­ten. Zur Urbesetzung gehörte auch der An­fang 2016 verstorbene Saxofonist Wolfgang Fuchs. Mittlerweile hat Stefan Keune seinen Platz eingenommen. ,,Eigentlich hatten wir die Reunion schon früher geplant, aus Re­spekt vor Wolfgang Fuchs haben wir das Projekt aber verschoben.“

Daneben wird es weitere Konzerte mit Lash und Noble geben – unter anderem Ende April beim Ruhrjazz-Festival – oder im Duo mit John Russell. Außerdem versucht er, das Quartett mit Lovens, Russell und Schneider wiederzubeleben. Zuletzt haben sie vor 25 beim Festival in Bochum gespielt. Bekannte Namen und Konstellationen also. Dennoch dürfte schon jetzt klar sein: Es wird jede Menge unerhörte Klänge geben.

(Holger Pauler, in: Freistil 2018, #81)